Arbeitsforscher ziehen kritische Bilanz von 70 Jahren Tarifvertragssystem
70 Jahre nach seiner Einführung ist der Zustand des deutschen Tarifvertragssystems laut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung „nicht zufriedenstellend“. Wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Stiftung in der am Montag veröffentlichten Studie schreibt, geht die Reichweite der Tarifverträge seit mehr als zwei Jahrzehnten nahezu kontinuierlich zurück. Mittlerweile seien nur noch rund 55 Prozent der Beschäftigten und 27 Prozent der Betriebe tarifgebunden.
Insbesondere in kleineren Betrieben, in verschiedenen Dienstleistungsbereichen und in den ostdeutschen Bundesländern liegt die Tarifbindung laut WSI-Untersuchung erheblich unter dem Durchschnitt. Viele Unternehmen seien in den vergangenen Jahren aus der tariflichen Bindung ausgestiegen. „Die rückläufige Tarifbindung untergräbt die bestehenden Tarifstandards und fördert niedrig bezahlte und prekäre Beschäftigung“, sagte der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten.
Wer nach Tarif bezahlt wird, erhielt in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt preisbereinigt gut 14 Prozent mehr Lohn. Durch die Verträge wird auch der Trend zu kürzeren und flexibleren Arbeitszeiten unterstützt. Viele neue Abschlüsse enthalten Wahloptionen zwischen Geld und Zeit.
Schließlich sollen die Vereinbarungen auch die allgemeinen Arbeitsbedingungen verbessern. Ein aktuelles Beispiel sind laut WSI Entlastungstarifverträge für das Pflegepersonal in Krankenhäusern. „Verbesserte Arbeitsbedingungen wirken hier auch als wichtiger Beitrag gegen den Fachkräftemangel“, erklärte der Autor der Analyse, Reinhard Bispinck.
Um dem Tarifsystem zu neuer Stärke zu verhelfen, muss laut der Hans-Böckler-Stiftung die Tarifbindung wieder erhöht werden. Schulten forderte beispielsweise, dass die Verträge auch für Subunternehmer gelten sollen. Außerdem sollten öffentliche Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen gehen.